Warum in Libyen, nicht aber in Syrien?

„Und warum greift die Nato, ‚der Westen‘, nicht militärisch in Syrien ein? In Libyen schon, in Syrien nicht? Obwohl die Verbrechen der syrischen Assad-Regierung inzwischen mindestens so schwer sind wie die Gaddafis?“ Hans Rauscher, alias Rau stellte im Standard vom 14. Juni diese rhetorische Frage und beantwortete sie dann in der ihm eigenen Schlichtheit: „Auf diese Frage gibt es in der öffentlichen Debatte, gibt es in zahllosen Internetforen eine Antwort, die sich die ‚antiimperialistische‘ Linke und die nationalistische Rechte teilen: Klar; Libyen hat Öl, Syrien hat keines. Die Wahrheit ist so simpel und pragmatisch, wie sie die Verschwörungstheoretiker nicht fassen können: Die Nato ist zu schwach, um in Libyen und Syrien gleichzeitig eingreifen zu können. Die USA haben genug mit zwei Kriegen in islamischen Ländern (Afghanistan, Irak), sie halten sich aus dem dritten (Libyen) weitgehend heraus. Großbritannien und Frankreich, die die Hauptlast in Libyen tragen, können bald nicht mehr. Syrien ist außerdem wesentlich besser gerüstet als Libyen“. Rauscher liegt in seiner Beurteilung in allen Punkten falsch. Natürlich spielen bei dem Nato-Angriff die Ölvorkommen in Libyen eine Rolle und die Verschonung Syriens ist keineswegs darauf zurückzuführen, dass die Nato zu schwach wäre, um in beiden Staaten gleichzeitig eingreifen zu können und auch nicht darauf, dass die USA mit zwei Kriegen in islamischen Ländern genug hätten.
Einen ungleich fundierteren Beitrag zu dieser Frage hatte bereits Rainer Hermann in der FAZ vom 2.Mai verfasst. Er sieht das Zögern des Westens, in Syrien militärisch einzugreifen, darin begründet, dass Libyen weitgehend isoliert sei, in Syrien aber alle Konflikte der Region zusammenliefen. Jeder Akteur in der Region stehe mit Damaskus in Kontakt, wenn auch in unterschiedlichen Graden. Ein Regimewechsel in Damaskus würde alle Karten neu mischen. Falls die Staatengemeinschaft nicht schon die damit verbundene Ungewissheit abschrecke, täte es eine weitere syrische Besonderheit. Kein anderes Land des Nahen Ostens, ausgenommen der kleine Libanon, habe eine derartige religiöse und ethnische Vielfalt wie Syrien. In homogenen Ländern wie Tunesien und Ägypten wären die Revolutionen weitgehend unblutig verlaufen. In Syrien könnte ein Umsturz indes in einen Bürgerkrieg abgleiten, nicht viel anders als der in Jugoslawien. Sein Strudel könnte die ganze Region mit sich nach unten ziehen. Ein zusätzliches Problem stelle die große Anzahl von Christen dar, die in Syrien über zehn Prozent der Gesamtbevölkerung betrügen. Zudem befänden sich viele christliche Flüchtlinge aus dem Irak im Lande. Die Angst vor irakischen Zuständen wäre groß.
So richtig und zutreffend die Argumente Rainer Hermanns auch sind, auf zwei wesentliche Punkte hat auch er vergessen. Punkt 1: Die syrische Führungsschicht stellt die alawitische Minderheit, der auch die Präsidentenfamilie angehört. Im Jahre 1982 hatte in der mittelsyrischen Stadt Hama ein Massaker stattgefunden, in dessen Verlauf 20.000 bis 30.000 Menschen den Tod gefunden hatten. Zielgruppe der Tötungen waren die regierungsfeindlichen Muslimbrüder, aber auch Vertreter anderer Bevölkerungsgruppen zählten zu den Opfern. Seit den damaligen Ereignissen herrscht Ruhe im Land. Dafür sorgten Geheimpolizei und Militär. Ein Sieg der Demonstranten über das herrschende Baath-Regime würde mit größter Wahrscheinlichkeit radikale Islamisten, das heißt die Muslimbrüder oder Al-Qaida-nahe Gruppierungen an die Macht bringen. Und dies würde zweierlei bedeuten: Erstens: Der Hass der bisher unterdrückten Mehrheit würde sich entladen und zu blutigen Racheakten an den Alawiten, aber auch, wie im Irak, zu Christenverfolgungen führen.
Punkt 2: Trotz aller Verbalradikalität der syrischen Führung konnte Israel beruhigt sein. Bellende Hunde beißen nicht. Präsident Assad hatte sich de facto mit Israel arrangiert. Auch wenn Syrien als Verbündeter des Iran und als Schutzmacht der libanesischen Hisbollah gilt würde ein Sieg radikaler Islamisten zu einer weit größeren Bedrohung des jüdischen Staastes führen und liegt daher weder im Interesse Israels, noch der USA und des „Westens. Nur so ist die weiche Haltung der EU und der USA gegenüber Syrien zu verstehen.